Auszug aus dem 3. Versband des Vereins Poeten vom Müggelsee
e.V.
"Ein Vers-Spaziergang durch die Zeit", Jahrgang 2018
Detlef Krastel
ERLEBNIS FRIEDRICHSHAGEN – HISTORIE UND HISTÖRCHEN
„Das ist doch nicht der Alte Fritz“, wandte ich ein, als der armenische Bildhauer Spartak Babajan sein Modell eines Denkmals für Friedrich den Zweiten vorstellte. „Nein, das ist der junge Fritz“, erläuterte Babajan, „ich habe ihn im Alter von 41 Jahren dargestellt. So alt war er, als Friedrichshagen 1753 in seinem Namen gegründet wurde.“ Nun steht der Namenspatron seit 2003 wieder auf dem Marktplatz in Friedrichshagen.
Bis 1945 stand hier schon einmal ein Denkmal des „Alten Fritz“, das in der Friedrichshagener Gießerei „Gladenbeck“ hergestellt wurde. Die Erzeugnisse dieser Gießerei haben den Namen Friedrichshagen in die Welt hinaus getragen. Wer weiß schon, dass die Victoria auf der Siegessäule oder der Fridtjof am norwegischen Fjord in Friedrichshagen gegossen wurden?
Es war ein hervorragender Ort, den der königliche Domänenrat Pfeiffer vor nunmehr 265 Jahren für die Gründung eines Dorfes im Auftrag seines Königs gewählt hatte. Die lobhudelnde Ortsbezeichnung konnte den König aber nicht über die korrupten Machenschaften Pfeiffers täuschen. Pfeiffer wanderte ins Gefängnis, doch Friedrichshagen verdankt ihm seine bevorzugte Ortslage, die bald Siedler und Erholungssuchende aus Nah und Fern anzog. Ende des 19. Jahrhunderts etablierte sich hier der“ Friedrichshagener Dichterkreis“, an den viele Straßennamen erinnern. An schönen Wochenenden strömten damals die Menschenmassen aus den Berliner Mietskasernen dorthin, sodass Friedrichshagen die breiteste Bahnhofstreppe Berlins erhielt. Da die Kapazität der Fähren für die vielen Ausflügler nicht ausreichte, wurde die Spree untertunnelt. Es gab riesige Gartenlokale. Das Restaurant „Müggelschlösschen“, das im Zweiten Weltkrieg zerstört wurde, hatte 5000 Plätze.
265 Jahre Friedrichshagen – mehr als ein Viertel davon habe ich selbst erlebt. Schon als Kind zog mich immer wieder der Müggelsee an. Über den damals noch existie-renden Bahnübergang Bude 16 war es ein kurzer Weg dahin. Er führte mich an den im Stile der Backsteingotik errichteten Wasserwerken vorbei. Schon seit 1893 wird hier Trinkwasser für Berlin gefördert und aufbereitet. Das Wasserwerk war damals das größte und modernste Europas und hat auch heute noch eine große Bedeutung für die Wasserversorgung Berlins. Der hervorragenden Qualität des Wassers ist das gute Bier zu verdanken, das 140 Jahre lang in Friedrichshagen gebraut wurde und sich als „Berliner Bürgerbräu“ einen Namen machte.
Mein Weg zum Müggelsee führte mich auch immer wieder an einem geheimnisumwitterten Gebäude vorbei, wo seit 1893 das Wasser unter anderen Aspekten untersucht wird. Diese Einrichtung ist heute als „Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei“ ein international renommiertes Forschungszentrum.
Den Krieg hat unsere Familie mit Glück heil überstanden. Schrecklich waren die Bombenangriffe, denen auch viele Häuser in Friedrichshagen zum Opfer fielen. Der Spreetunnel war gesprengt worden und wurde zeitweise durch eine Behelfsbrücke ersetzt. Als Schüler beteiligte ich mich an Aufbauarbeiten im teilzerstörten Naturtheater, in dem vor dem Krieg bedeutende Regisseure und Schauspieler, wie Walter Felsenstein und Heinrich George, wirkten. Es wurde später in ein Tennisstadion umgebaut.
Kurz nach dem Krieg erzählte man, dass in Friedrichshagen berühmte Persönlichkeiten gesehen wurden. Es war die Rede von der bekannten Filmschauspielerin Olga Tschechowa und dem Boxer Conny Rux. Später habe ich den Hintergrund dafür erfahren. Olga Tschechowa war die Nichte des berühmten russischen Dichters Anton Tschechow. Während des Nationalsozialismus wurde sie als Schauspielerin gefeiert, was dem sowjetischen Geheimdienst, wo ihr Bruder ein hoher Funktionär war, nicht verborgen blieb. Es soll den Plan gegeben haben, mit Olgas Hilfe Hitler zu ermorden. Beim Einmarsch der Roten Armee im April 1945 wurde Olga Tschechowa, die damals in Großglienicke wohnte, zum Verhör nach Moskau abtransportiert. Als persönlicher Gast des Geheimdienstchefs wurde sie zuvorkommend behandelt, doch sollte sie auch weiter unter sowjetischer Kontrolle bleiben. Ihre Ansiedlung in Friedrichshagen ist der Tatsache zu verdanken, dass Großglienicke dem Britischen Sektor zugeschlagen wurde. Die sowjetische Besatzungsmacht stellte ihr eine Villa in der Straße Hahns Mühle sowie ein Auto mit sowjetischem Chauffeur zur Verfügung. Sie lebte dort einige Jahre mit ihrer Tochter Ada und ihrer Enkelin Vera. Ada hat den Boxer Conny Rux geheiratet.
Ich will diese Rückschau nicht beenden, ohne auf einen Mann hinzuweisen, dessen Verdienste als Drogist und Gummifabrikant aus dem Liebesleben paarungswilliger Menschen nicht wegzudenken sind. Gemeint ist Julius Fromm, der in der Rahnsdorfer Straße in Friedrichshagen eine Fabrik zur Herstellung von Kondomen eröffnete, die er von hier aus unter dem Markennamen "Fromms" in die ganze Welt lieferte. Fromm musste als Jude 1938 emigrieren und ist 1945 in England gestorben.
Brigitte Müller
DAS GEWISSEN
Ein Ereignis aus jüngster Zeit ist mir besonders im Gedächtnis geblieben und hat mich nachdenklich gemacht.
Nach einer Tour mit dem Fahrrad von Adlershof kommend Richtung Müggelsee und einem Bummel über die „Bölsche“, hielt ich auf dem Rückweg beim ALDI am Allende-Viertel, um dort etwas für eine kleine Feier am Abend zu kaufen. An der Kasse stellte ich fest, dass mein Geld nicht reichen wird, da ich mich vorher schon etwas verausgabt hatte. Ich konnte somit nicht alles von mir auf das Band Gestellte bezahlen. So musste ich am Ende die Wiener-Würstchen und meine Lieblingsschokolade zurücklassen.
„Ausgerechnet die Würstchen!“, dachte ich, die ich am Abend meinem Besuch zum Kartoffelsalat servieren wollte. Meine Enttäuschung war groß.
Als ich gerade dabei war, meine Tasche auf dem Fahrrad zu verstauen, sah ich einen jungen Mann mit meinen Würstchen und der Schokolade in der Hand auf mich zukommen, was mich in maßloses Erstaunen versetzte. „Was macht der mit meinen zurückgelassenen Sachen?“ ging es mir durch den Kopf. Ich verstand die Welt nicht mehr. Doch noch verwunderter war ich, als der junge Mann dann wie selbstverständlich sagte: „Ich möchte Ihnen Ihre Wiener und die Schokolade, die ich für Sie gekauft habe, schenken.“ Ich konnte es nicht fassen und schaute den „Glücksbringer“ ungläubig an. „Das kann ich nicht annehmen“, waren die einzigen Worte, die ich über die Lippen brachte.
Das, was ich nun zu hören bekam, verschlug mir gänzlich die Sprache. „Doch“, versicherte er mir, „das können Sie mit gutem Gewissen, denn ich habe ein sehr SCHLECHTES. Ich habe vorhin in der Alt-Stadt die Parkgebühren für mein Fahrzeug nicht bezahlt, und nun möchte ich mit dieser Geste mein Gewissen erleichtern!“
Bei so viel Ehrlichkeit konnte ich mich nur bedanken, woraufhin der junge Mann zu seinem Auto ging und verschwand.
Ich stand noch immer an der gleichen Stelle und hatte Mühe, das Erlebte zu verarbeiten. „Oh mein Gott, dass es so etwas noch gibt? In der heutigen Zeit?“ Das Ganze kam mir wie ein Wunder vor. Oft genug war ich nahe daran, den Glauben an die Menschheit zu verlieren. Vor allem dann, wenn ich an der Kasse bei ALDI mit alten, rücksichtslosen, ewig meckernden Männern konfrontiert wurde, die ihre Ehefrauen hinter sich herzogen und mir dann auch noch ohne Gewissensbisse mit Bravour ihren Einkaufswagen in den Rücken schoben.
Aber wie man sieht, gibt es sie doch noch: JUNGE MENSCHEN MIT GEWISSEN! Was für eine wohltuende Begegnung! Mit einem Stück Schokolade im Mund bin ich glücklich nach Hause geradelt, und die Feier konnte beginnen.
Ilse Markgraf
BLAUER MONTAG
Wirklich weise sind die Leute, die sich nicht gleich bei jeder Unannehmlichkeit im Leben aufregen. Man kann ja nie wissen, ob sich die Angelegenheit vielleicht doch in eine gute Sache verwandelt. So ist aus meiner ärgerlich langen Fahrt zur Arbeit mit S-Bahn, U-Bahn, Bus nun eine Liebhaberei geworden.
Ja, ich fahre so gerne Bahn! Wie viele Dinge hätte ich nicht gesehen, miterlebt und gehört! Wie viel ärmer wäre mein Leben ohne die täglichen Begegnungen mit Men-schen unterschiedlichster Art! Oft wurde dadurch ein grauer Arbeitsalltag vergnüglich bunt.
Einmal, zum Beispiel, stiegen zwei junge Männer in die S-Bahn ein und setzten sich zu mir ins Abteil. Beide in Arbeitskleidung, sie fuhren zu ihren Baustellen. Abrasierte Haare, hier und da ein Tattoo, im Ohr ein Plastering zur Ohrläppchenerweiterung und an der Nase ein Eisenpopel – Piercing nennt man das jetzt. Also moderne junge Männer.
„Ey Alter, hab dich lange nicht gesehen! Wohin fährst´n? Wie geht’s denn so?“ „Ick muss heute nach Chinesischet Tor, oder wie dit heißt. Wie´t mir jeht? Alter, frag nich – beschissen!“
„Ja, du siehst aus, als ob de vom Jerüst ne Flieje jemacht hast! Warum machste heute nich blau? Is doch Montag!“
„Nee, ick muss jetze hin zur Arbeet. Weeste, jestern war ick noch bei Wolle – Party vom Feinsten, sage ick nur!“
„Ach, da warste dann wohl voll wie ne Haubitze, wat?“ Schadenfrohes Blinzeln lag im Blick des anderen.
„Naja, fünf bis zehn Bier hab ick schon abjebissen – bin ick aber jewöhnt. Nee nee Alter, wat ick dir jetzt erzähle, dit wirst de nich jlooben: Hundemüde komme ick nach Hause, mach keen Licht an, sonst texten mich meine Eltern wieder zu mit `Immer musste so ville saufen!`. Da hatte ick keen Bock druff. Ick schmeiß ma uffs Bett und: Ick höre eine janz feine Stimme, mehr wie´n Summen. Ick sage dir: ne Mücke!!!! Tierlieb bin ick ja, aber bei nur eener Mücke, da hörts bei mir uff! Ick schlag nach ihr. Schon kommt se wieder an mit dem fiesen hohen Mückensafran, ach, Sopran heißt dit, sagste? Na jedenfalls kam se immer wieder an. Sowat kann einen doch zur Weißglut bringen! Ick also wütend zur Kammer, hole Mückenspray und spraye wat dit Zeug hält. Mal links, mal rechts, nach oben, usw.. Aber dit Biest is nich stille zu kriejen! Also nochmal jesprayt, überall hin. Da stoße ick mir ooch noch im Dunkeln dit Knie! War ick megasauer!!!! Endlich – keen Ton! Endlich pennen! Morjens wache ick uff. Ick denk, mich tritt ne Pferdeherde! Die janze Bude blau! Von oben bis unten, die Gardinen, der Schrank, die Wand – blau! Fake! Die Spraydose war gar keen Mückenspray. Dit war Autospray in blau!“
Die ganze Erzählung ging einher mit empörtem Gestikulieren. Jede Szene konnte ich mir genau vorstellen, zeitweise tauchte ich tief in die Handlung ein und kämpfte auch mit Hingabe gegen die Mücke. Nun kam meine Station, ich musste aussteigen. Im Gehen hörte ich noch einige Wortfetzen wie: voll krass ey – die Mücke? – an der Wand – ´n Punkt... – cool!“
Nie, nun ja, selten habe ich mir mal ´nen blauen Montag gegönnt. An diesem Montag jedoch war vor meinem geistigen Auge alles blau.